
Manche Romane führen ein ungelesenes Dasein im Bücherregal – manchmal über viele Jahre. Zuweilen ist die Zeit einfach noch nicht reif. Jetzt war sie es für Die Straße der Ölsardinen, immerhin das Werk eines Nobelpreisträgers. Ich habe John Steinbecks Text als historischen Roman gelesen, der er streng genommen nicht ist.
Steinbeck beschreibt die Realität im kalifornischen Monterey in den dreißiger und vierziger Jahren. Die „Great Depression“ – die große Wirtschaftskrise – lastet auf den Menschen. Am schlimmsten trifft es jene, die ohnehin am Rand stehen. Der Fokus liegt auf der Cannery Row, der Straße der Ölsardinen. Steinbeck lebte selbst in Monterey und war eng befreundet mit Doc Ed Ricketts, der im Roman eine wichtige Rolle spielt. Ihm widmet Steinbeck den Text, ihm setzt er ein Denkmal.
Daneben tauchen Gestalten auf wie „Mack und seine Jungens“, die immer wieder für Chaos sorgen, oder Lee Chong, der in seinem Laden alles verkauft, was nicht niet- und nagelfest ist. Und Dora, die Freudenhaus-Chefin, die zwar grundsätzlich Verbotenes tut, aber gerade deshalb akribisch auf die Einhaltung aller übrigen Regeln pocht.
Es sind die Verlierer seiner Zeit, die Steinbeck in den Blick nimmt: gestrandet am Rand der Gesellschaft, manchmal nicht besonders helle, aber selten wirklich böse. Die wahren Schurken überlässt er anderen Erzählern. Ihn interessieren die Schattierungen dazwischen – Menschen, die sich irgendwie durchschlagen. Mack etwa, der alles gibt, um Doc eine Freude zu machen und eine Party zu schmeißen. Früh ahnt man, dass das schiefgeht: Doc ist nicht zuhause, als die Bande sein Haus aufmischt. Dabei hatten Mack und seine Kumpel extra Frösche gefangen, um sie an Doc zu verkaufen und mit dem Geld die Feier zu finanzieren.
Ein Besserungsroman ist das nicht. Mack und seine Leute wissen, dass sie sich nicht ändern werden. Sie wissen, dass es keinen Ausweg gibt. Mack akzeptiert sogar, dass Doc ihm einen Zahn ausgeschlagen hat. Und doch bleibt Doc warmherzig, ein Mensch, der verzeiht. Also muss es eine zweite, eine bessere Party geben. Diesmal ahnt Doc, was kommen wird, und sichert vorsorglich seine Plattensammlung. Er zieht das Unglück an – und er kann nicht anders, als mitten hineinzutappen.

Steinbeck hat ein Herz für die Schwachen. Das ist die Botschaft, die bei mir hängen bleibt: Do not forget them! Kurz gesagt: Auch wenn ich Die Straße der Ölsardinen wie einen historischen Roman lese – die Geschichte könnte auch heute spielen. Deshalb lohnt es sich, Steinbeck wieder zur Hand zu nehmen.
John Steinbeck, Die Straße der Ölsardinen. Deutsch von Rudolf Frank, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1986. Die Originalausgabe erschien 1945 unter dem Titel Cannery Row, die deutschsprachige Erstveröffentlichung 1946 in Zürich.
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