
Er war einer der letzten Ritchie Boys, junge jüdische Männer aus Deutschland, die im Camp Ritchie in Maryland ausgebildet wurden, um Kriegsgefangene zu verhören. Guy Stern, geboren am 14. Januar 1922 als Günther Stern in Hildesheim, wuchs dort und in Vlotho auf. Doch als die Bedrohung durch die Nazis zunahm, emigrierte er in die USA – seine Familie sah er nie wieder, alle wurden ermordet.
Sterns Leben ist voller Geschichten, die er immer wieder erzählt hat – in Lesungen, aus Manuskripten, mit Fotos und Erinnerungen an Orte wie Hildesheim oder Vlotho. Zum hundertsten Geburtstag war seine Autobiografie erschienen: Wir sind nur noch wenige. Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys (Aufbau-Verlag, 2022).
Stern schreibt Geschichte, kein Wort ist erfunden. Er begegnet bekannten Persönlichkeiten wie Thomas Mann und seiner Tochter Erika, der Brecht-Sängerin Lotte Lenya oder Marlene Dietrich. Doch ebenso prägen zufällige Begegnungen dieses lange Leben.
Die Situation für die Familie wurde immer bedrohlicher: Ein SS-Mann schlug Sterns Vater zusammen, weil er einen Brief einwerfen wollte. Ein Polizist bot an, „selbstverständlich auszusagen“, bat aber um Geld – wenige Tage später kamen die Nazis und traktierten die Familie. Stern schreibt: „Zum ersten Mal in unserem Leben sahen wir unseren Vater, der normalerweise nicht aus der Ruhe zu bringen war, hemmungslos weinen.“
1937 sorgte eine Organisation aus St. Louis für die Ausreise: Günther war eines von 1.200 Kindern, die in die USA gebracht wurden. Bei der Verabschiedung dachte er, bald wieder mit seiner Familie vereint zu sein – doch niemand überlebte.
Aus Günther wird Guy – Jugend in Amerika
In den USA wurde Günther Stern zu Guy Stern. Sein neuer Name blieb an ihm haften, nicht zuletzt während seiner freiwilligen Meldung zum Kriegsdienst. Guy wurde US-Bürger und war bereit, sich seiner Vergangenheit zu stellen – auch als Ritchie Boy in der Normandie.
Als Kommissar Krukow führte er deutsche Gefangene durch gezielte Verhöre. Innerhalb weniger Sekunden berichteten diese alles über Industrieanlagen und militärische Pläne – weil die Ritchie Boys genau wussten, wie die Deutschen ticken.
Nach dem Krieg war es nicht leicht für Stern: Sein Instinkt, Germanistik zu studieren, öffnete alte Wunden. Er wurde Literaturprofessor und Spezialist für Exilliteratur. Beruflich erfolgreich, privat oft traurig: seine erste Ehe mit Margith blieb kinderlos, ein Adoptivsohn starb.
Später fand er die Liebe zu Judy, 20 Jahre jünger, die 2003 an Brustkrebs starb. Schließlich traf er Susanna Piontek, die seine Erinnerungen ins Deutsche übersetzte – und mit der er eine neue Lebensphase begann. Trotz aller Erfahrungen kehrte Stern nicht nur emotional, sondern auch formal nach Deutschland zurück: Er erhielt einen deutschen Pass, ohne sich von den USA zu lösen.
Guy Sterns Autobiografie zeigt, wie eng Geschichte und individuelles Schicksal verwoben sind. Sein Leben erzählt von Flucht, Verlust, Liebe, Freundschaft und der Kraft, trotz allem menschlich zu bleiben.
Wir sind nur noch wenige. Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys – Aufbau-Verlag, 2022.
Update 2023: Guy Stern starb am 7. Dezember 2023 in Detroit, USA. Ich bin dankbar, ihn persönlich kennengelernt zu haben.
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