Gegen die Natur kann sich niemand stellen.

Manche Bücher lassen einen kalt – bis sie eines Tages zurückkehren. Der Schimmelreiter war für mich so ein Fall. Einst Schulstoff, später Aha-Erlebnis: Storms Erzählung über den Deichgrafen Hauke Haien entfaltet erst mit Abstand ihre Tiefe. Zwischen Fortschrittsdrang und Aberglauben, Liebe und Einsamkeit zeigt sie, wie schmal der Grat ist zwischen dem, was der Mensch will, und dem, was die Welt zulässt.

Theodor Storm (1817–1888) wird heute fast immer im Zusammenhang mit Der Schimmelreiter genannt – und das völlig zu Recht. Überraschend ist allerdings, dass seine Zeitgenossen den wohl bekanntesten Text des Husumers erst 1888, wenige Monate vor und vor allem nach seinem Tod, kennenlernten. Damals schätzte man den Dichter aus der „grauen Stadt am Meer“ noch eher wegen Der kleine Häwelmann (1849), jenem Kunstmärchen, das er für seinen Sohn schrieb, oder wegen Pole Poppenspäler (1874).

Die in Der Schimmelreiter aus dem Volksglauben heraufbeschworene Atmosphäre macht die Geschichte des Deichgrafen Hauke Haien so fesselnd – verbunden mit der feinsinnigen, aber auch widersprüchlichen Darstellung eines Mannes, der nicht ganz glatt ist: Er tötet die dämonisch wirkende Katze einer alten Frau (die mich an E.T.A. Hoffmanns Apfelweib aus dem Goldnen Topf erinnert), rettet später aber den Hund, der im Deichbau geopfert werden soll.

Leben in Konflikten

Haiens Leben besteht aus Konflikten. Nicht so sehr mit dem Vater – die Mutter spielt in Storms Welt ohnehin eine eher untergeordnete Rolle – sondern mit dem Großknecht Ole Peters, der ebenfalls Deichgraf werden und die reiche Erbin Elke heiraten möchte. Doch Elke setzt sich über die alten Normen hinweg: „Er ist längst mein Verlobter“, erklärt sie auf der Deichversammlung. Und so wird Hauke Haien Deichgraf.

Haien und Elke bekommen bald ein besonderes Kind, das man damals wohl als bemitleidenswerte Last gesehen hätte – sie aber lieben es bedingungslos.
Dass Hauke andere Vorstellungen vom Deichbau hat als die Dorfbewohner, macht ihn zunehmend zum Außenseiter. Seiner Frau und Tochter öffnet er sich nicht; was seine Arbeit betrifft, bleibt er verschlossen. Der bröckelnde Deich, der drohende Bruch und jene undichte Stelle werden immer mehr zum Sinnbild seines Lebens: Gegen die Natur kann sich niemand stellen. Auch Haien nicht, der als „eigener Kerl“ gilt – zumal er einen totgeglaubten Schimmel wieder zum Leben erweckt und als Reiter auf diesem Pferd zur geisterhaften Gestalt wird.

Ordnung und Chaos

Das alles liest sich wie ein Gruselroman mit Wiedergänger-Motiven – nur eben viel besser. Storm ist ein Dichter großer Bilder; seine Sprache malt Szenen, die man gerne als realistisch bezeichnet, die aber weit darüber hinausgehen. Wer die Novelle als Konflikt zwischen Chaos und Ordnung lesen möchte, wird hier fündig – nur, dass die Ordnung am Ende unterliegt.

Und das Chaos geht weiter: Im Sturm begegnet ein Fremder Jahrzehnte später dem ewigen Deichgrafen, der ihm auf einem Schimmel entgegenkommt. Im Wirtshaus erfährt er, dass es der längst verstorbene Hauke Haien gewesen sei – und ein Schulmeister erzählt die Geschichte.

„Der Schimmelreiter“ ist unter anderem 2011 bei Insel erschienen. Oder 1999 (meine Ausgabe) mit Text und Kommentar bei Suhrkamp