Männer und Frauen hatten klare Rollen, doch das Leben war weit weniger hierarchisch, als man erwarten könnte.

Von den heroischen Körpern der Megalithbauern bis zu den Mythen über die wilden Germanen: Vieles, was wir über unsere frühesten Vorfahren zu wissen glauben, stammt aus Geschichten – nicht aus Fakten. Karl Banghard räumt in seinem Buch „Die wahre Geschichte der Germanen“ gründlich damit auf. Eine Lektüre, die mehr über uns selbst verrät, als man denkt.

Die Germanen interessieren mich quasi seit Urzeiten. Als ganz junger Mensch habe ich selbstverständlich den fast schon legendären Was-ist-was-Band von Hans Reichhardt verschlungen. Irgendwie war mir das mit vielen Zeichnungen bebilderte Buch später abhandengekommen – bis es mir vor kurzem wieder in die Hände fiel. Nach der ersten Wiederlektüre war schnell klar: immer noch nett zu lesen, aber irgendwie „aus der Zeit gefallen“.

Was ist was fand ich als junger Leser toll.

Die Megalithbauern, schreibt Reichhardt, seien wahrscheinlich selbstbewusst und stolz gewesen. Und dann wörtlich: „Auf kräftigen Körpern, breiten Schultern und starken Hälsen saßen breitflächige, fast viereckige Gesichter. In Westfalen hat sich der Typ der Megalithbauern fast unverfälscht erhalten.“
Mit Verlaub, Herr Reichhardt: Das ist – freundlich gesagt – Unfug. Ich neige allerdings dazu, solche Passagen zu verzeihen. Der Band erschien (zumindest in der Auflage, die ich besitze) 1978.

Ganz anders Karl Banghards Die wahre Geschichte der Germanen, das jüngst bei Propyläen erschienen ist – in heutiger Sprache, mit Schwung erzählt und streckenweise fast wie ein archäologisches Roadmovie. Schon der Titel wirkt ironisch. Denn Banghard, Prähistoriker und Direktor des Freilichtmuseums Oerlinghausen, erhebt überhaupt nicht den Anspruch, „die letzte Wahrheit“ über die Germanen zu verkünden.

Im Gegenteil: Die Vergangenheit, schreibt er, kümmere sich wenig um Wahrheit. Sie sei aufstachelnd, verstörend und in allen Dingen so unerledigt wie unsere eigene Gegenwart.

Banghard zeigt anschaulich, wie die Germanen lebten – in ihren Siedlungen, bei der Feldarbeit, im Handwerk. Männer und Frauen hatten klare Rollen, doch das Leben war weit weniger hierarchisch, als man erwarten könnte. Macht und Ehre spielten eine Rolle, aber nicht als heroische Prinzipien, sondern im Alltag: in Streitigkeiten, Gerichtsritualen, im Umgang mit der Gemeinschaft.

Besonders spannend ist Banghards Aufräumen mit dem Mythos. Viele Vorstellungen über die Germanen sind bis heute geprägt von literarischer Überhöhung oder völkischer Ideologie. Archäologische Funde und Quellenstudien zeigen dagegen ein anderes Bild: Menschen, die sich an ihre Umgebung anpassten, mit Landwirtschaft und Viehzucht überlebten und in Ritualen eine tiefe Verbundenheit zur Natur ausdrückten. Wälder, Flüsse und Jahreszeiten waren keine Kulisse für Heldentaten, sondern elementare Bestandteile ihres Lebens.

Dabei sei es, so Banghard, die Archäologie, die uns endlich vom römischen Blick befreie – ein Gedanke, der mich unweigerlich an meine eigene Tacitus-Lektüre in der Schulzeit erinnert. „Fast alle gravierenden Erkenntnisse zu den Germanen sind archäologische Erkenntnisse“, schreibt Banghard, und man spürt, dass er diese Disziplin nicht nur als Wissenschaft, sondern als erzählerische Kunst begreift.

Menschen, nicht Mythen

Was mich besonders beeindruckt hat, ist Banghards Fähigkeit, die Germanen als eigenständige Kultur darzustellen – nicht als Vorläufer unserer modernen Gesellschaft, sondern als Menschen mit eigenen Werten, Konflikten und Wegen, Verantwortung zu leben. Seine Sprache bleibt dabei klar, gelegentlich mit feiner Ironie, und nie belehrend.

Auf Zeichnungen wie früher bei Was ist was verzichtet das Buch übrigens. Dafür enthält es einen umfangreichen Fotoblock mit beeindruckenden Aufnahmen, die germanische Lebensbilder auf dem Stand heutiger Forschung zeigen – sachlich, atmosphärisch, hervorragend gemacht.

Mein Fazit: Die wahre Geschichte der Germanen ist ein kluges, unterhaltsames Buch, das nicht mit Pathos glänzt, sondern mit Haltung. Es erzählt weniger von Heldentaten – und mehr von Menschen, die einfach überleben wollten. Banghard gelingt dabei ein Spagat, der selten funktioniert: Er schreibt populär, ohne banal zu werden, und wissenschaftlich, ohne trocken zu klingen. Seine Germanen sind keine Ahnen im nationalen Sinne – sondern Nachbarn in der Zeit.

Karl Banghard: Die wahre Geschichte der Germanen. Propyläen Verlag, Berlin 2025.

Karl Banghard, Jahrgang 1966, ist Prähistoriker, Archäologe und Direktor des LWL-Freilichtmuseums Oerlinghausen. Seine Arbeit verbindet Wissenschaft und Vermittlung – er versteht Archäologie nicht als staubiges Sammeln von Scherben, sondern als lebendiges Erzählen über das Menschsein. Banghard schreibt ebenso klar wie pointiert: Er räumt mit Mythen auf, ohne den Zauber der Geschichte zu zerstören. Die wahre Geschichte der Germanen ist sein bislang persönlichstes Buch – und vielleicht das unterhaltsamste, das es über die Frühgeschichte Mitteleuropas derzeit gibt.